Kochen, waschen, Kinder betreuen, Geld verdienen – Alleinerziehende müssen alles ohne Hilfe bewältigen. Und ihre Zahl steigt rasant
Ich habe es nicht mehr ausgehalten“, stand auf dem handgeschriebenen Zettel, den Matthias Gärtner* um fünf Uhr früh auf dem Küchentisch entdeckte. Seine Frau und die beiden Söhne waren verschwunden, in der Nacht aus der gemeinsamen Wohnung in einem Dorf der Lüneburger Heide geflüchtet. Fünf Wochen lang wusste der damals 30-jährige Heilpraktiker nicht, wo seine Familie steckte. Erst das Jugendamt, dem sich seine Frau anvertraut hatte, nannte Matthias Gärtner schließlich den Aufenthaltsort. Als die Frau sich später persönlich meldete, warf sie ihrem Mann vor, er habe sich vor lauter Arbeit nicht um die Kinder gekümmert. Jakob* war damals zwei, Till* fünf Jahre alt. Das war 1999.
Am Ende der Ehe, nach Unterstellungen und Verletzungen, stand das Urteil eines Familiengerichtes in Hamburg, dass der Heilpraktiker Gärtner und seine Frau sich das Sorgerecht künftig teilen sollten. Das bedeutet: Alle wichtigen Entscheidungen im Leben der Kinder – Schulwechsel, Umzug, Urlaub – müssen sie miteinander abstimmen. Die Kinder wohnen seither bei ihm, Matthias Gärtner ist jetzt alleinerziehender Vater. Seine ehemalige Frau sieht die Kinder nur an Wochenenden und in den Ferien. Sie haben sich am Ende arrangiert. Rundum glücklich mit der neuen Situation ist keiner von beiden.
Alleinerziehen ist keine Lebensform, für die sich Menschen bewusst entscheiden. Jene eigenständige Karrierefrau, die sich mithilfe eines anonymen Samenspenders ihr Leben mit Kind, aber ohne Mann einrichtet, mag es geben – statistisch relevant ist sie nicht. Wer den Blick auf die Lebensgeschichten der knapp zwei Millionen Alleinerziehenden in Deutschland richtet, erkennt alles, was das Leben zur Tragödie machen kann. Frauen und Männer werden zu Alleinerziehenden, weil Ehen und Lebensgemeinschaften scheitern, weil der Partner stirbt, weil ein Kind nicht geplant war, weil einer von beiden es nicht will – weil die Realität ihren Lebensplänen, in denen komplette Familien einmal die Hauptrolle spielten, einen Strich durch die Rechnung machte. Dass sie ihre Verantwortung im Alltag mit niemandem teilen können, ist ihr Dilemma, ihre Bürde. Mit knapp einem Viertel aller Familien in Deutschland sind die Alleinerziehenden längst keine Randgruppe mehr. Manche sprechen auch von „Einelternfamilien“ – vielleicht, weil dieses Wort nicht ganz so sehr nach Einsamkeit klingt.
In den Lebensläufen von Vätern und Müttern, die Familie, Beruf und Alltag allein organisieren müssen, bündeln sich die Konflikte einer Gesellschaft, die auf Leistung und Effizienz getrimmt ist. Die Risiken des modernen Lebens bedrohen die Alleinerziehenden mehr als andere. Eine längere Krankheit oder eine Kündigung genügen, um sie aus der Bahn zu werfen. Man erwartet, dass Alleinerziehende ihr Leben meistern, und keiner steht hinter ihnen, der hilft, den Spagat zwischen Beruf, Privatleben und Kindererziehung hinzubekommen. Die Angst ist oft allgegenwärtig, schließlich haben Alleinerziehende schon einmal erfahren, was es heißt, eine Zeit lang die Kontrolle über das eigene Leben zu verlieren.
Scheitern, wieder aufstehen und weitermachen – der Kinder wegen
Die junge Familie des Heilpraktikers Matthias Gärtner ist auseinander gebrochen. „Mit der Mutter meiner Kinder wollte ich Arbeit, Haushalt und Erziehung gerecht aufteilen. Ich wollte Familie und Beruf so, dass es rund wird“, sagt der 34-jährige Vater. Nun bauen er und seine Kinder sich einen neuen Alltag. Sie backen Pizza, putzen gemeinsam. „Warum sollte ich die Hausarbeit allein machen, um mich danach erst um Jakob und Till zu kümmern?“, fragt er. Das Zusammensein mit den Söhnen hilft, dass es weitergeht. Scheitern, aufstehen, weitermachen, damit es den Kindern gut geht. Der Streit und die Verletzungen in den Monaten vor der Scheidung haben ihm zugesetzt. Die Wunde ist noch längst nicht verheilt. Er spricht darüber nicht mit Fremden und will nichts davon in der Zeitung lesen. Er will keinen erneuten Streit mit seiner Frau heraufbeschwören und errichtet um sich und seine Kinder einen Wall der Harmonie. Er benötigt diesen Schutzwall, um sein Leben neu zu ordnen.
Noch bis in die sechziger Jahre hinein vermochte das bürgerliche Ideal des Ehebundes Paare bis ans Lebensende aneinander zu schweißen, auch wenn sie sich längst auseinander gelebt hatten. Im Schnitt lag damals die Zahl der Ehescheidungen bei 75000 pro Jahr. Inzwischen nähert sie sich nach einem Zwischentief Anfang der neunziger Jahre geradewegs der 200000-Marke (siehe Grafik Seite 10). Seit 1970 hat sich die Zahl der Alleinerziehenden in Deutschland verdreifacht. Ein Massenphänomen, sagt der Düsseldorfer Kinderpsychologe Matthias Franz, die Gesellschaft dürfe davor die Augen nicht verschließen. In manchen Großstädten der Vereinigten Staaten sind heute vier von zehn Familien „Einelternfamilien“. Der Psychologe Franz sagt: „Wenn weite Teile der Gesellschaft einen tiefgreifenden Bindungsverlust erleiden, mag niemand hinschauen, das macht Angst.“
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Übernahmen Aus zwei mach eins » Der Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich erkannte schon in den sechziger Jahren eine „vaterlose Gesellschaft“. Er sprach von den Geburtsjahrgängen Mitte der dreißiger Jahre bis Ende des Zweiten Weltkrieges – Kriegswaisen, die ein kollektives Trauma erlebt hatten. Auch Mitscherlich diagnostizierte den Bindungsverlust. Vor allem aber sah er Menschen, die es nicht gelernt hatten, mit Konflikten umzugehen. Im Unterschied zu früher ziehen Partner heute einschneidende Konsequenzen, wenn sie sich entfremdet haben – sie trennen sich. Mehr als die Hälfte aller deutschen Paare, die sich scheiden lassen, haben minderjährige Kinder. Auch die vermögen es am Ende oft nicht, die Eltern dazu zu bewegen, zusammenzubleiben.
Familienforscher machen in erster Linie überhöhte Erwartungen dafür verantwortlich, dass mehr Ehen denn je zerbrechen. So meint beispielsweise der Münchner Familienforscher Wassilios Fthenakis: „Die Menschen wollen das Maximum an Glück in einer Beziehung finden. Diese hohen Erwartungen können mit einer Person auf Dauer nicht realisiert werden.“ In einer Gesellschaft, die ständig mobiler wird, und einer Arbeitswelt, die immer mehr Flexibilität verlangt, soll die Partnerschaft Halt und Sicherheit geben – und wird damit oftmals überfrachtet. Werden die Erwartungen enttäuscht, trennt man sich. Warum auch an einer Bindung festhalten, deren Auflösung längst keinen Makel mehr bedeutet? Auch als Versorgungseinrichtung hat die Ehe ausgedient: Eine Frau, die einen Beruf ausübt, geht im Zweifel lieber eigene Wege, als unter der Ehe bis zum Lebensende zu leiden.
Hinter Frust und Enttäuschung erkennen Wissenschaftler noch andere Gründe: finanzielle Schwierigkeiten etwa, Geldsorgen der Familien, die Unfrieden stiften und den Zusammenhalt bröckeln lassen. Oder Väter, die viel Zeit am Arbeitsplatz und wenig Zeit in der Familie verbringen – und Mütter, die sich in ein traditionelles Rollenschema zurückgedrängt sehen und dabei desillusioniert werden. Sie mögen eine Zeit lang mürrisch schweigen, aber wenn sie keine Chance auf Besserung erkennen, ziehen sie die Scheidung vor und wagen einen Neubeginn.
Ein streng eingeteilter Alltag hilft Alleinerziehenden, die Trennung zu verarbeiten. Bleiben die Kinder im Haushalt, gerät ihre Welt nicht vollkommen aus den Fugen. Auf Trennung und Scheidung folgte früher der Streit um das Sorgerecht. Zwei Drittel der „Einelternfamilien“ gehen in Deutschland aus Scheidungen hervor. Die Frage, wie die Verantwortung für die Kinder geteilt werden soll, schafft die meisten Konflikte. Seit der Gesetzgeber 1998 das neue Kindschaftsrecht eingeführt hat, ist das gemeinsame Sorgerecht bei verheirateten Paaren zum Regelfall geworden. Dies gilt in 80 Prozent der Fälle. Nur wenn der Vater oder die Mutter einen Antrag auf alleiniges Sorgerecht stellen, spielt die Entscheidung über das Sorgerecht im Scheidungsverfahren überhaupt noch eine Rolle. Der eine muss dem anderen nachweisen, dass er nicht in der Lage sei, für das Kind zu sorgen – ideale Bedingungen für Streit und gegenseitige Verletzungen. Trennen sich Eltern ohne Trauschein, die durch das neue Recht eigentlich den verheirateten gleichgestellt werden sollten, darf die Mutter auch ohne Angabe von Gründen und gegen den Willen des Vaters das Sorgerecht allein beanspruchen. Ende Januar dieses Jahres bestätigte das Bundesverfassungsgericht diese Rechtslage. Als Maßstab gilt den Richtern das Wohl des Kindes.
Ob die gemeinsame Sorge dem Kindeswohl tatsächlich dient, darüber herrscht keineswegs Einigkeit. Befürworter des gemeinsamen Sorgerechts argumentieren, Eltern würden gezwungen, Kontakt zu halten, weil sie ja weiter gemeinsam erziehen müssten. Die Familie bricht also nicht völlig auseinander. Kritiker bemängeln dagegen, dass die Konflikte zwischen den Eltern nicht abgebaut, sondern fortgesetzt werden – und das zulasten der Kinder.
Der Heilpraktiker Matthias Gärtner holte sich Hilfe bei der Erziehungsberatung. „Ich musste Vater und Mutter sein“, sagt er. Dass die Söhne nun bei ihm leben, „das hat mir die Kraft gegeben, weiterzumachen“. Der Heilpraktiker schraubte sein Arbeitspensum zurück, beantragte Sozialhilfe und kümmerte sich um seine Kinder. Gärtner will nicht bloß der Ernährer sein, der seine Kinder nur abends zu Gesicht bekommt.
„Nach unserer Trennung hat sich alles falsch angefühlt“
Das neue Kindschaftsrecht räumt dem Vater mehr Gewicht und mehr Befugnisse ein, weil die gemeinsame Sorge beide Eltern zu gleichen Teilen einbezieht. Doch ihre Pflichten nehmen die Väter noch nicht im selben Maß wahr, etwa beim Unterhalt, berichtet der Verein alleinerziehender Väter und Mütter, die wichtigste Lobby der Alleinerziehenden in Deutschland. Auch mit dem neuen Kindschaftsrecht trügen nach wie vor die Mütter die Hauptlast. Eine Auseinandersetzung darüber, wie die gemeinsame Sorge aufgeteilt werden soll, falle im Scheidungsstreit allzu oft unter den Tisch.
Ute Weber* hat die Trennung vom Vater ihres achtährigen Sohnes Friedrich* nie ganz verwunden. Vielleicht liegt es auch daran, dass es bereits die zweite Beziehung war, aus der ein Kind hervorging und die dann scheiterte. Ute Weber hat noch eine 19-jährige Tochter, Sophie. Mit beiden bewohnt sie eine große, renovierte Dreizimmer-Altbauwohnung in der Dresdener Neustadt, einem Gründerzeitviertel, das schon zu DDR-Zeiten junge Leute und Künstler anlockte. „Immer alles alleine machen, alles allein entscheiden müssen“, sagt die 38-Jährige, eine schmale Frau mit hellbraunen gescheitelten Haaren. Früher habe sie immer die Sicherheit gehabt, dass es nie problematisch werden würde, die Kinder allein zu erziehen. Zu DDR-Zeiten, als sich noch mehrere Familien die riesigen Altbauwohnungen teilten, gab es immer eine alte Dame, die „überm Flur wohnte und auch mal auf Sophie aufpasste“. Auch nach der Wende klappte es noch gut, selbst als sie in den neunziger Jahren ein Studium begann.
Im vergangenen Herbst spürte sie aber, dass ihr Leben ohne Partner sie erschöpft hatte, sie fühlte sich überfordert und allein gelassen. Sie wurde depressiv, fürchtete, die Kontrolle über ihr Leben zu verlieren. Ute Weber hat in einem Fernstudium Betriebswirtschaft studiert und bildet heute Körperbehinderte zu Bürokommunikationsfachleuten aus. Sohn Friedrich besucht tagsüber, bis 17 Uhr, den Hort, Sophie hat gerade Abitur gemacht und will im Herbst ausziehen.
Ute Webers Arme liegen auf Friedrichs Schultern. Sie lächelt ihn an, etwas spröde. Friedrich wippt, mit dem ganzen Körper, wie ein Hampelmann, der sich nicht bändigen lassen will. Er genießt es, sich eng an die Mutter zu schmiegen. Sie erzählt von der Therapie, spricht leiser als sonst und verklausuliert. Friedrich soll nicht mitbekommen, dass seine Mutter zwei Monate lang vormittags in eine Tagesklinik statt zur Arbeit fuhr und mit Kunsttherapie eine Auszeit vom Alltag nahm. Schon nach der Trennung hatte sie bei einer Psychologin Rat gesucht. Damals hatte sie kaum Freunde; sie hatte niemanden, mit dem sie über die Frage, die sie so umtrieb, reden konnte: Treffe ich die richtige Entscheidung? „Nach der Trennung hat sich alles falsch angefühlt. Er hat mich mit diesem Gefühl zurückgelassen.“
Alleinerziehende sterben früher als andere Mütter und Väter
Bis sie der Belastung nicht mehr standhielt, hat Ute Weber als Mutter gut funktioniert. Sie hatte das oberste Gebot aller berufstätigen Alleinerziehenden verinnerlicht: Plane deinen Tag, plane ihn sorgfältig.
Die Last der Alltagskonflikte birgt für alleinerziehende Mütter und Väter die Gefahr einer Depression. Ein schwedisches Wissenschaftlerteam des Nationalen Instituts für Gesundheit und Wohlfahrt veröffentlichte im Januar dieses Jahres die Ergebnisse einer Untersuchung, die die Lebensumstände von einer Million Kindern und ihren Eltern zusammenfasst. 65000 dieser Kinder wachsen bei Alleinerziehenden auf. Die Studie bestätigte die Vermutung, dass die Lebenssituation bei Erwachsenen und Kindern deutliche Spuren hinterlässt. Was die Wissenschaftler überraschte, war das Ausmaß der Konflikte: Kinder und Jugendliche aus „Einelternfamilien“ haben demnach zwei- bis viermal so häufig Probleme mit Drogen, sind auffällig aggressiv oder gar selbstmordgefährdet. Die alleinerziehenden Eltern leiden in besonderem Maße unter psychosomatischen Beschwerden. Ihre Lebenserwartung liegt erheblich unter der anderer Eltern.
Nicht erst die Trennung habe viele Alleinerziehende labil gemacht, sagt der Kinder- und Jugendpsychiater Matthias Franz. Dass viele Menschen an einer Beziehungskrise scheitern, liege auch daran, dass sie nie gelernt hätten, ihre Konflikte wie Erwachsene zu lösen. In unserer Gesellschaft sei „Beziehungswissen“ verloren gegangen, meint Franz. Aber nur stabile Eltern könnten einem Kind in seinen Bedürfnissen und Nöten beistehen. Dabei kann ein Kind auch aus einer Scheidung gestärkt, selbstbewusst und selbstständiger als seine Altersgenossen hervorgehen; auch dies haben neue Studien belegt. Entscheidend ist, wie gut es den Eltern gelingt, ein intaktes Umfeld aufrechtzuerhalten, und wie gut Familie und Freunde den Weg aus der gescheiterten Ehe mittragen. Vorbilder können berufstätige, alleinerziehende Eltern genauso gut sein wie Eltern kompletter Familien.
Der Jugendpsychiater Franz bemängelt, dass die Sensoren der Menschen im sozialen Umfeld für die ersten Störungen bei Kindern Alleinerziehender unterentwickelt seien – bei Kinderärzten, Erzieherinnen und Erziehern, bei Lehrern in der Grundschule, also überall dort, wo noch rechtzeitig geholfen werden könnte. In der Pubertät nehmen die Probleme noch zu, die Kinder Alleinerziehender durchleiden häufig einen besonders schwierigen Ablösungsprozess, weil sie das Gefühl haben, ihre Mutter beziehungsweise ihren Vater allein zurückzulassen. Kinder mit ausgeprägtem Verantwortungsbewusstsein schlüpfen in die Rolle eines Partners, der verlässt. Gelingt die Ablösung nicht, kann sie in Aggressionen münden, die sich nicht nur nach außen zeigen. Viele richten die zerstörerische Energie gegen sich selbst. Selbstverletzungen und Essstörungen – besonders bei Mädchen – zeigen an der Oberfläche, wenn Heranwachsende seelisch nicht verkraften, was Psychoanalytiker als „Rollendiffusion“ bezeichnen.
Jugendliche müssten ihre Identität zwischen privaten und öffentlichen Rollenmodellen finden, sagt Franz. Die Kinder alleinerziehender Eltern fänden dabei in der eigenen, zerbrochenen Familie gerade das prägende Beispiel dafür vor, wie eine Lösung des Konflikts nicht gelungen sei.
Akzeptiert sein heißt, im Wettlauf der Arbeits- und Erfolgssüchtigen mithalten zu können. Der Heilpraktiker Matthias Gärtner hat sich gegen dieses vertraute Spiel entschieden, dennoch fühlt er sich manchmal als sozialer Fremdkörper, weil er in seiner Erzieherrolle den Müttern aus der Nachbarschaft ähnlicher ist als den Vätern. Er ist eine Ausnahme, weil er den Beruf auf ein Minimum zurückgefahren hat, um in einer Welt, in der die meisten kaum Zeit haben, so viel Zeit wie möglich mit seinen Kindern zu verbringen. „Bei einer Frau wird es akzeptiert, wenn sie von Sozialhilfe lebt, zu Hause bleibt und ihre Kinder erzieht“, meint er.
Die Zerreißprobe zwischen Arbeitswelt und Erziehung seiner Kinder bewältigt Matthias Gärtner. Er übt seinen Beruf nur stundenweise aus, in einem angemieteten Praxisraum. Was er verdient, wird mit der Sozialhilfe verrechnet. Was bleibt, ist die Befriedigung zu arbeiten – so, wie man es meist von verheirateten Müttern kennt. Er hält seinen Beruf auf Sparflamme, in der Hoffnung, später wieder aufzudrehen. So stimmt er den Alltag auf die Kinder ab, vereinbart am Morgen Termine in der Praxis, geht einkaufen, holt zur Mittagszeit die Kinder aus der Schule, bearbeitet abends seine Fälle und macht die Wäsche. Gärtner praktiziert nicht nur den Rückzug aufs Land, er praktiziert auch den Rückzug vom Konsum. So will er leben, aber so ist es auch leichter, mit wenig auszukommen.
Neben Migranten und kinderreichen Familien sind Alleinerziehende am stärksten dem Risiko ausgesetzt, arm zu werden. Ein Drittel der Menschen, die in Deutschland in relativer Armut leben, das heißt mit weniger als der Hälfte des Durchschnittseinkommens aller Haushalte (monatlich 1109 Euro) auskommen müssen, sind Alleinerziehende. Schon heute sind mehr als ein Fünftel der Sozialhilfeempfänger alleinerziehende Mütter. Sie sind meist geringer qualifiziert als die Väter, die allein mit Kind dastehen, arbeiten oft in Teilzeit, geraten deshalb leichter in eine finanzielle Zwangslage. Armut. Wenn das Familienbudget keine Urlaubsreise hergibt – ist das dann Armut? Wenn Kinder nach den Schulferien vom gemeinsamen Urlaub erzählen, sei das ein Akt gesellschaftlicher Teilhabe, sagt der Kölner Sozialwissenschaftler Christoph Butterwegge.
Eine Ferienreise, von der die Kinder des Heilpraktikers Gärtner berichten könnten, gibt es nicht. Statt zu verreisen, zeltet Gärtner mit seinen Söhnen im Wald. 760 Euro Sozialhilfe stehen ihm als alleinerziehendem Vater mit zwei Kindern zu. „Man muss kreativ damit umgehen.“ Er jammert nicht, er organisiert. Damit das Geld reicht, kommen Hosen, Schuhe, Möbel vom Flohmarkt. Spielzeug wird repariert, nichts Brauchbares weggeworfen. Holztiere schnitzt der Vater selbst. Statt Schulgeld zu zahlen, arbeitet er – viel mehr als andere Eltern – in der Schreinerei und im Garten der Waldorfschule mit. Das sind seine Strategien gegen das Gefühl des Mangels.
Traditionelle, kontinuierliche Arbeitsverhältnisse lösen sich auf und machen Arbeitsplatzwechseln, Zeitarbeit und Zeitverträgen Platz. Der Einzelne ist mehr denn je auf sich selbst gestellt, die Normalfamilie und die familiären Netze verlieren an Bedeutung, die Politik hat mit Reformen zum Rückbau des Sozialstaates angesetzt. Alleinernährer, sagt der Sozialwissenschaftler Butterwegge, würden vom Sparkurs des Staates härter als andere getroffen. Alleinerziehende können leichter in Armut geraten, weil sie in einem Dilemma stecken: Einerseits sind ihre Jobs oft am unteren Ende der Lohnskala angesiedelt, andererseits können sie sich nicht von früh bis spät ihrem Beruf verschreiben, wenn sie sich zugleich um ihre Kinder kümmern wollen. Dem Vollzeitjob, den sie aus finanziellen Gründen dringend bräuchten, können sie der Kinderbetreuung wegen kaum nachkommen.
„Wenn andere Freizeit haben, bin ich mit den Kindern beschäftigt“
Mit verlässlichen Schul- und Kindergartenöffnungszeiten und günstigeren Einkaufszeiten wäre vielen geholfen. Alleinerziehenden fällt es noch schwerer als anderen Eltern, sich Freiräume zu erhalten. Der Heilpraktiker Gärtner erlebt stets aufs Neue, wie schwierig es ist, mit anderen Männern etwas zu unternehmen. „Wenn die anderen Freizeit haben, bin ich mit den Kindern beschäftigt“, sagt Gärtner. Die meisten Kontakte seien deshalb über die Schule entstanden. „In der Waldorfschule kommen fast alle Eltern zum monatlichen Elternabend. Das ist eine Art Familie geworden.“
Nur wenige alleinerziehende Väter würden sich wie Gärtner dafür entscheiden, die Karriere zurückzustellen. Lautet die entscheidende Frage doch: Wie bestehe ich in der Arbeitswelt? Nicht: Wie führe ich ein zufriedenes Leben?
Streng genommen, waren Frauen in Familien mit traditioneller Rollenverteilung schon immer alleinerziehend. Zwar wussten sie einen Ernährer im Hintergrund, als Erziehende und Bezugsperson hingegen wirkten sie als der wirklich prägende Part in der Beziehung. In den vergangenen Jahrzehnten haben mehr Väter die Kinderzimmer entdeckt. Dass Väter als Alleinerziehende in die alleinige Erzieherrolle schlüpfen, mag nicht zuletzt als Indiz dafür gelten, dass inzwischen bei beiden Geschlechtern das vorhanden ist, was Pädagogen Erziehungswissen nennen. Väter, die auch vor der Einführung des Kindschaftsrechts 1998 für das Sorgerecht kämpften, bildeten eine Minderheit, sie standen für eine neue Identifikation mit der Vaterrolle.
Anders als Kriegerwitwen geraten Mütter und Väter im Jahr 2003 sehr selten durch den Tod eines Ehepartners in die Situation des Alleinerziehenden. Ihre Kinder wachsen deshalb nicht mit dem gerahmten Bild eines Vaters auf, der, wenn überhaupt, nur wenige Jahre anwesend war und in seiner Abwesenheit nicht mehr den Prüfungen des Lebens standhalten musste. Vom Punkt null der Trennung an, wenn Väter, Mütter und Kinder versuchen, noch einmal anzufangen, entscheidet sich die Qualität ihres Lebens danach, wie gut sie die neue Lebensphase bewältigen.
Seit ein paar Monaten trifft sich Ute Weber wieder regelmäßig mit Friedrichs Vater. Sie empfindet immer noch etwas für ihn. Friedrich war zweieinhalb, als sie sich trennten. „Ich wollte eigentlich in der Beziehung bleiben“, sagt Ute Weber. Sie hatte begonnen, sich für Politik zu interessieren, besuchte Diskussionsabende, war nun häufiger am Abend weg. Überhaupt entwickelte sie sich weiter, entdeckte neue Interessen. Bei ihrem Partner kam das alles gar nicht gut an, weil er glaubte, sie werde sich ihm entfremden. Die Befürchtung wurde wahr, irgendwann wollte Ute Weber nicht mehr mit ihm zusammenleben. Am Ende einigten sie sich darauf, dass er die gemeinsame Wohnung verließ. „Wir haben Friedrich gesagt, der Papa schläft jetzt im Büro.“ Später holte der Vater den Jungen alle zwei Wochen freitags im Kindergarten ab, um mit ihm das Wochenende zu verbringen. Er holte ihn nicht zu Hause ab, damit sich Vater und Mutter nicht begegnen mussten.
Beide ertrugen die Trennung anfangs nur auf Distanz. Manchmal, wenn die Eltern sich jetzt wieder treffen, ist Sohn Friedrich dabei. An die gemeinsame Zeit mit den Eltern kann er sich nicht erinnern. „Aber wenn wir spazieren gehen und Friedrich in der Mitte geht“, erzählt die Mutter und lächelt, „legt er manchmal unsere Hände ineinander.“
Die zweite Trennung berührte Ute Weber tiefer als die erste, 1983 in der Oberlausitz, als noch keiner auf das Ende der DDR zählte. Sie war sehr jung, als sie mit Sophie schwanger war: 19 Jahre alt, wie Sophie heute. Sie hatte ihre kaufmännische Lehre gerade beendet und hätte arbeiten können; ihr stand ein Platz im Kinderhort zu, aber sie wollte ihr Kind nicht dem System überlassen. Doch das Angebot vermittelte Sicherheit, auch wenn sie es nicht annahm.
In der DDR gehörten Frauen und Berufstätigkeit zusammen. Kinder allein großzuziehen war kalkulierbar und schon gar kein Makel. Der Staat unterstützte junge Eltern und stellte eine voll versorgende Infrastruktur von Horten und Krippen bereit. Unterschiede im Selbstverständnis der Mutter- und Frauenrolle sind zwischen Ost- und Westdeutschland geblieben. Eine Studie, die im Jahr 2000 im Auftrag des Bundesfamilienministeriums entstand, weist nach, dass alleinerziehende Frauen in Ostdeutschland, die meist einem Beruf in Vollzeit nachgehen, ihre Lebenssituation für weniger belastend halten als Alleinerziehende aus den alten Bundesländern – ungeachtet der unterschiedlichen Betreuungssituation in Ost und West.
Eltern, am wenigsten alleinerziehende, dürfen niemals ausfallen, dürfen niemals krank sein. Sie müssen funktionieren, müssen bereitstehen, wenn der Kindergarten über Mittag schließt, wie es vielerorts in Deutschland noch üblich ist. Was berufstätige Elternpaare vermissen, flächendeckend Ganztagesplätze in Kinderhorten und Krippen (für Kinder unter drei Jahren ist der Bedarf nicht einmal zu fünf Prozent gedeckt), benachteiligt Alleinerziehende erst recht. Dabei handelt die Politik sogar unökonomisch, wenn der Ausbau der Kinderbetreuung vernachlässigt wird. Studien der Universität Bielefeld und des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung in Berlin haben nachgewiesen, dass der Staat jeden für Kindergärten, Krippen und Horte investierten Euro drei- bis vierfach zurückerhält – in Form von mehr Steuereinnahmen und mehr Sozialabgaben der berufstätigen Väter und Mütter.
Aber diese Erkenntnis hat sich noch längst nicht überall durchgesetzt. So hat Baden-Württemberg gerade einmal für 4,3 Prozent aller Kinder Ganztagsplätze im Kindergarten. Thüringen, der Spitzenreiter, bringt es dagegen auf 100 Prozent – ein Relikt aus der DDR. Doch gerade im Osten bedroht die Finanzmisere der Länder und Kommunen die nach wie vor hervorragende Infrastruktur der Krippen und Horte. In Dresden prozessieren seit Monaten Eltern, weil die Stadt Ende vergangenen Jahres pauschal 8000 Kita-Verträge kündigte und neue Verträge mit Zugangskriterien vorlegte. Einen Platz sichert die Kommune nur noch Berufstätigen zu. Wer arbeitslos ist oder Elternzeit nimmt, verliert den Anspruch.
Wie überall in den neuen Bundesländern sinken auch in Dresden die Jahrgangszahlen, und die Stadtregierung zieht es vor, das Angebot herunterzufahren, damit sie demnächst nicht mehr Plätze finanziert, als gebraucht werden. Andernorts im Osten verschwinden in Grundschulen und Kindergärten ganze Gruppen, Erzieherinnen werden entlassen – erste Konsequenz aus dem Geburtenrückgang. „Vor diesem Hintergrund ziehen sich immer mehr Kommunen aus der Kinderbetreuung zurück“, klagt die Bundesgeschäftsführerin des Vereins alleinerziehender Mütter und Väter, Peggi Liebisch. Es dürfe keine Frage der Staatsfinanzen werden, wie gut Kinder betreut würden und ob es Eltern gelinge, ihren Alltag zu organisieren oder nicht.
Die junge Hausfrau fühlte sich wie lebendig begraben
An solchen Dingen entscheidet sich, wie unbeschadet Eltern und Kinder aus der Krise hervorgehen. Sie brauchen ein Klima, das Risiken abfedert, und sie brauchen Institutionen, die auf ihre Bedürfnisse abgestimmt sind. Alleinerziehende Väter und Mütter trotzen den kraftraubenden modernen Lebensverhältnissen. Sie hetzen von einer Verpflichtung zur anderen und reiben sich auf. Wer die Lebensläufe Alleinerziehender betrachtet, bekommt eine Ahnung davon, wie ungeheuer mühsam es sein kann, sich Morgen für Morgen aufzuraffen.
Als Ute Weber ihre Tochter zur Welt brachte, empfand sie das Kind als großes Glück. Alte Fotos zeigen Ute Weber und Sophies Vater auf dem Sofa, beide in Karohemden und mit glatt gekämmtem Haar, zwischen ihnen das Baby, ihr ganzes Glück. Der Sommer, in dem sie zusammenzogen, war heiß, und Ute Weber blieb mit ihrem wohlgenährten Baby erst mal zu Hause. Der SED-Staat zahlte ihr 300 Mark für die Kinderbetreuung, sie verdiente sich noch etwas hinzu, indem sie Kleider nähte und Diplomarbeiten tippte. Sie führte das Leben einer Hausfrau und Mutter auf dem Lande und fühlte sich bald „wie lebendig begraben“.
Sie hätte nicht heiraten müssen, nicht wegen des Kindes, als Ledige hatte sie ein Anrecht auf einen Krippenplatz. Sie heiratete dennoch. Nach wenigen Jahren zog sie aus der gemeinsamen Wohnung aus. Scheidungen in der DDR waren unproblematisch und billig. Schon vor dem Zerwürfnis hatte sie eine neue Arbeit, als Lohnbuchhalterin in einem schmucklosen Büro hinter der LPG-Kantine in Oberseifersdorf. Auch am 1. Juli 1990 arbeitete sie, einem Sonntag, als sie die Ersparnisse der Bauern in D-Mark umtauschte.
Halten Partnerschaften heutzutage weniger Veränderung aus? Sabine Stiehler, eine Dresdner Soziologin, glaubt, dass Partnerschaften zu viele Ängste, Abhängigkeiten, Wünsche auffangen müssten. „Zu viele gehen mit zu hohen Erwartungen in eine Partnerschaft.“ Aber gibt es das, eine „erwartungsfreie Partnerschaft“? Sophie, Ute Webers 19-jährige Tochter, sieht die Familie ihres Freundes und sagt: „Da sind alle verheiratet, da gibt’s so was gar nicht.“ Und fragt sich: „Wie schaffen die das eigentlich?“ Prompt zieht Sophie neugierige Mutterblicke auf sich. Sophie, die mit einem Wochenend- und Ferienvater aufgewachsen ist, schaut ihren kleinen Bruder an und sieht, wie sich ihre Geschichte zu wiederholen scheint.