Trotz Patchwork-Familie und Scheidungswut: Kinder brauchen ihre Väter
Wer braucht Väter? Sie gebären nicht, sie stillen nicht, sie wickeln selten. Sind sie überhaupt zu etwas gut? Seit die Fernwärme ins Haus kommt und die Kohlen nicht mehr in den fünften Stock geschleppt werden müssen, seit Kinderwagen faltbar wie Regenschirme sind und Frauen ihr Geld selbst verdienen, gelten Väter als entbehrlich. Aus Chicago erreichte uns unlängst gar die Kunde, dass es gelungen sei, aus der erwachsenen Zelle einer Frau künstlichen Samen zu schaffen und damit eine Eizelle zu befruchten. Viele Frauen träumen davon, nicht einmal mehr jenen anonymen Samenspender zu benötigen, den sie für ihre Kinder bislang noch brauchen.
Dass dieser Traum möglicherweise bald in Erfüllung geht – darin sieht zum Beispiel die amerikanische Schauspielerin Jody Foster kein Problem. „Ich kann mich nicht erinnern, meinen Vater je vermisst zu haben“, gab die Oscar-Preisträgerin trotzig zu Protokoll. Nie vermisst? Man muss nicht Sigmund Freud bemühen, um diese forsche Behauptung anzuzweifeln. Zu verbreitet sind die Geschichten von Kindern, die hofften, unter den Spätheimkehrern ihre Väter zu finden, von Scheidungswaisen, die sich nach ihren abgetauchten oder ausgegrenzten Vätern sehnen. Neuerdings kommen die Kinder von der Samenbank dazu, die genau wie alle anderen wissen wollen, wo sie herkommen, und sich auf die Vatersuche begeben.
Parole: „Väter sind Täter“
Das ist normal, meint die englische Entwicklungspsychologin und Bestsellerautorin Penelope Leach: „Kinder brauchen Väter, weil wir eine Einheit sind, die von einer Mutter und einem Vater abstammt. Wir sind die Kombination zweier Menschen, von zwei genetischen Sätzen und zwei Familiensträngen.“ Der Vater kann fortgegangen, tot oder nur totgeschwiegen sein – die Fantasie des Kindes wird sich immer mit ihm beschäftigen. „Der Vater ist, wie die Mutter auch, seit den Anfängen der Geschichte ein Archetyp“, schreibt der Psychoanalytiker Horst Petri, „ein in den untersten Seelenschichten verankertes Prinzip.“
Und doch hält sich unter Feministinnen die Überzeugung von der Überflüssigkeit väterlicher Präsenz. Nach der Losung „Väter sind Täter“ werden die Erzeuger verspottet, belächelt oder polemisch niedergemacht. Längst aber haben Vaterforschung und Psychoanalyse bewiesen, dass dem Vater bereits im ersten Lebensjahr eine große Bedeutung zukommt. Eine neue Studie an der Universität Utah, die Babys im Alter von zwölf Monaten untersuchte, zeigt, dass Väter für die emotionale Entwicklung ihrer Kinder von größter Bedeutung sind: Kleinkinder, die eine enge Beziehung zu ihren Vätern haben, kommen besser mit emotionalem Stress zurecht. Schon vor Jahren haben die Psychologen Eldred Rutherford und Paul Mussen festgestellt, dass Kinder mit liebevollen Vätern generöser sind. Sie hatten Vierjährigen Süßigkeiten gegeben und sie aufgefordert, sie mit zwei anderen Kindern zu teilen. Die Kinder, die gerne abgaben, waren diejenigen, die ihre Väter als warm, liebevoll und tröstend beschrieben hatten.
Als „Dritter“ verhindert der Vater die zu enge Bindung des Kindes an die Mutter und vermindert die Trennungsängste von ihr. Dieser Loslösungsprozess ist, so Horst Petri, „sehr problematisch, wenn Mutter und Kind auf sich gestellt sind“. In der HipHop-Sprache von Jay-Z klingt die Ein-Eltern-Variante wie eine Klage: „Mama loves me, Pop I miss you…“
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Übernahmen Aus zwei mach eins » Seit die Scheidung durch Abschaffung des Schuldprinzips zum Massenphänomen wurde, kommen in Deutschland jährlich etwa 150000 (eheliche) Kinder hinzu, die irgendwie ohne ihren Vater auskommen müssen. Jahrelang hatte man sich angewöhnt, die wachsende Vaterlosigkeit nicht als Problem zu begreifen. Gebraucht wurde bloß der Unterhalt, nicht der Vater selbst. Doch nun wird der Vater wiederentdeckt als VIP, als „very important person“ im Leben des Kindes.
Die Trendumkehr wurde zuerst – vor mehr als zehn Jahren – in Amerika sichtbar. Es war aufgefallen, dass unter den Schulversagern, Studienabbrechern, Drogenabhängigen, Vergewaltigern und Gefängnisinsassen der Anteil der Kinder, die ohne Vater aufwuchsen, überproportional hoch war. Fast zwei Drittel aller Vergewaltiger, drei Viertel der jugendlichen Mörder und ein ähnlich hoher Prozentsatz jugendlicher Gefängnisinsassen sind ohne Vater groß geworden. Ob es sich um die Zündler an der Lübecker Synagoge oder die Totschläger eines Obdachlosen handelt, fast alle teilen eine negative biografische Erfahrung mit dem Vater: Vater tot, Vater Alkoholiker, Vater unbekannt, Vater abgetaucht. Die Sozialforscher McLanahan und Sandefur haben ausgerechnet, dass für ein Mittelklassemädchen aus einer zerbrochenen Familie die Gefahr einer Teenagerschwangerschaft fünfmal und die Gefahr eines Schulabbruchs dreimal so groß ist wie bei einem Kind aus einer vollständigen Familie.
Unter den Verfechtern der Mutter-Kind-Rumpffamilie folgte die Abwehrreaktion auf dem Fuße. Ein typischer Einwand lautet so: „Alles Unsinn. Erstens ist mein Fritzchen kein Versager, und zweitens sprechen schon die ordentlichen Lebensläufe von Abertausenden von Kriegswaisen dagegen.“ So wenig aber der Einzelfall ein Beweis ist, so wenig widerlegen Kriegs- und andere Waisen die Negativfolgen des modernen Vaterverlustes. Waisenkinder, das hat die Forschung längst etabliert, wachsen mit einem positiven Vaterbild auf. Das Bild des Vaters steht buchstäblich auf dem Klavier oder, wie im Falle der Kriegswaise Gerhard Schröder, auf dem Schreibtisch. Die Sehnsucht des Waisenkindes nach seinem Vater entspricht jener der Mutter nach ihrem Mann. Der tote Vater bleibt eine vorbildliche Kraft in der Familie, seine Werte werden von der Mutter unablässig transportiert. Der tote Vater kann betrauert und der Schmerz über den Verlust überwunden werden. Das Bild eines geschiedenen Vaters aber ist selten positiv besetzt. Es steht mit Sicherheit nicht auf Mutters Nachttisch. Oft wird er verteufelt, seine Wohltaten gegenüber dem Kind werden von der Mutter sarkastisch kommentiert oder beleidigt zur Kenntnis genommen: „Wenn du es so schön bei deinem Vater findest, kannst du ja gleich zu ihm ziehen.“ Mag aber die Mutter auch klagen, dass der Vater weder abgewaschen noch den Müll rausgetragen hat – dem Kind bleibt unvergesslich, dass er die Fahrradbremse repariert, nach der Sperrstunde mit ihm noch Fußball geguckt, heimlich mit ihm bei McDonald’s gegessen und überhaupt herrlich riskante Dinge gemacht hat. Das Kind will geliebt werden – von Mutter und Vater. „Je mehr Menschen ein Kind hat, denen es zutiefst zugetan ist, desto sicherer fühlt es sich“, sagt Professor Leach.
Ist es egal, wer diese Menschen sind? Trotz gemeinsamer Sorge fehlt in der geschiedenen Familie die Klarheit der Rollenverteilung – und sei sie noch so weitläufig umrahmt von der viel gerühmten „Patchwork-Familie“. In den meisten Fällen bleiben die Kinder bei der Mutter, der Vater mutiert über Nacht zum Besuchsvater, „einem Elternteil ohne Portefeuille“, wie die große alte Dame der Scheidungsforschung, Judith Wallerstein, ihn nennt. Seinen Begegnungen mit den eigenen Kindern fehlt fortan das Beiläufige und Zufällige des familiären Alltags.
Der Verlust des Zusammenlebens mit dem Vater bedeute, wie die Freiburger Psychologin Ursula Kodjoe meint, „für die Kinder eine enorme Belastung. Jedes zweite Wochenende müssen sie ihre Tasche packen und zum Vater ziehen, nur um nach zwei Tagen der Gewöhnung wieder zurück zur Mutter zu pendeln.“ Angst, dass der Vater nicht kommen könnte, Angst, die Mutter allein zu lassen, sind die konstanten Begleiter der seelisch zerrissenen Kinder. Besuchskontakte werden vollends zur Farce, wenn sie keine Übernachtung einschließen. Vater und Kinder werden es leid, in Eisdielen, Kinos oder Restaurants herumzuhängen. Ohne Einfluss auf Schularbeiten, Manieren, Kleidung oder Umgang beschleicht den Vater ein Gefühl der Bedeutungslosigkeit. Er ist bloß Zahlvater. Kein Wunder, dass viele resignieren und sich eine neue Familie suchen. E. Mavis Hetherington erklärt in der allerneuesten Scheidungsstudie For Better or for Worse (Norton, New York 2002), dass eine überraschende Zahl von Vätern aus dem Leben ihrer Kinder ausscheiden, „weil sie es weniger schmerzlich finden, ganz aus dem Leben der Kinder zu verschwinden, als nur halbwegs darin zu sein“.
Hierzulande bestimmt die Mutter
Das ist zwar nicht im Sinne der Kinder, aber durchaus das heimliche Ziel vieler Mütter. Sie wollen, allemal in den etwa 20 Prozent hochstrittiger Scheidungen, den verhassten Ehemann aus ihrem Leben vertreiben und sind froh über jede Begegnung des Kindes mit dem Vater, die nicht stattfindet. Oft sind es die Mütter, die das Ausscheiden der Väter aus dem Leben der Kinder systematisch herbeiführen, um hinterher umso lauter über die unzuverlässigen Patrone zu wehklagen. Der Vorgang ist bekannt als „Umgangsvereitelung“ und zumindest in Deutschland nicht justiziabel. „Wenn die Mutter nicht will, kann man nichts machen“, lautet der resignierte Kommentar von Familienrichtern.
Zwischen Vater-Sehnsucht und Vater-Verleumdung aufgerieben, werden viele Scheidungswaisen zum sozialen Problemfall: Kinder, die, in den Worten Horst Petris, „auf den Mangel an vorgelebter Autorität mit der Entfesselung ihrer Triebwelt“ reagieren. Die „Entvaterung“ als gesellschaftliches Problem zu begreifen gehört in der amerikanischen Sozialarbeit längst zum Standard. In Deutschland steckt das Problembewusstsein auf diesem Gebiet allenfalls in den Anfängen. Noch immer ist die Überzeugung weit verbreitet, Mutter schaffe es alleine – und besser. Die Entwicklungspsychologin Penelope Leach hält dagegen: „Wenn ich Zucker und Milch in den Kaffee möchte, ist es nicht dasselbe, wenn ich zwei Stück Zucker und keine Milch bekomme.“
In Artikel 18 der UN-Kinderrechtskonvention steht, „dass beide Eltern gemeinsam für die Erziehung und Entwicklung des Kindes verantwortlich sind. Dabei ist das Wohl des Kindes ihr Grundanliegen.“ Gehorchten alle Eltern diesem Prinzip, wäre Vaterentbehrung kein Problem geworden. Das ist aber nicht der Fall. Mit handfesten Folgen. In der letzten Scheidungsstudie ihrer über 25 Jahre währenden Beobachtung von Scheidungskindern hat Judith Wallerstein noch einmal hervorgehoben, was bei vielen – wenn auch nicht allen – Kindern durch Scheidung und Vaterverlust passieren kann: Mädchen schließen sich sehr viel enger an ihre Mütter an, fühlen sich für ihre Mütter verantwortlich. Ihre eigene Entwicklung leidet darunter, es fällt ihnen schwerer, diese enge Bindung zu lösen und dauerhaft glückliche Beziehungen zu jungen Männern aufzubauen. Jungen, denen die väterliche Identifikationsfigur weggebrochen ist, leiden unter Konzentrationsstörungen, prügeln sich viel oder werden zu Einzelgängern. Sie werden im Zuge der Übertragung von den Müttern häufig mit den negativen Seiten des Vaters identifiziert. Sie empfinden sich deshalb als „schlecht“, leiden an vermindertem Selbstwertgefühl. Kinder, die unter Vaterverlust leiden, haben oft mit Bindungsängsten zu kämpfen. So haben in Wallersteins Studie 40 Prozent der Männer und Frauen nie geheiratet, verglichen mit einer Heiratsrate von 80 Prozent von Kindern aus intakten Familien. Jungen gelten überdies als gefährdet, auch ihrerseits später die eigenen Kinder zu verlassen.
Gibt es in unseren scheidungswütigen Zeiten eine Lösung? Hetherington sieht Anlass zu Hoffnung. „Ein Mann, der mit dem Scheidungsurteil zufrieden ist, bleibt ein engagierter Vater und zahlt Unterhalt. Indes“, so die Forscherin einschränkend, „ein glücklicher Vater bedeutet oft eine unglückliche Mutter.“ Denn Frauen sind weniger zufrieden mit Mediation als Männer, weil sie häufig das Gefühl haben, dass Mediation die mütterliche Kontrolle schwächt.
Der Geschlechterkrieg führt nicht weiter. „Wenn du und Mama wieder richtig miteinander reden“, sagte eine Zehnjährige zu ihrem Vater, den sie monatelang nicht sehen durfte, „dann zeig ich dir auch mein neues Zimmer.“ Was sie mit dem „Gegengeschäft“ sagen wollte? Dass sie beide Eltern braucht, dass deren Verantwortung für die Kinder nicht mit der Beendigung von Ehe oder „Beziehungskiste“ aufhört.