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 Das Stillen eines Babys
Tanja31 Offline



Beiträge: 498

08.11.2007 11:49
Die Milch-Falle Antworten

Frauen, die ihre Babys nicht stillen wollen oder können, gelten als Rabenmütter. Der Griff zur Flasche ist verpönt

Bei Ulla lief nach der Geburt ihres ersten Kindes nichts so, wie man es sich für eine frisch gebackene Familie vorstellt. Schon in der ersten Woche waren die Schmerzen beim Stillen bald unerträglich, besonders nachts. Sie verkrampfte sich völlig, wenn Paulchen ansaugte – und mit den ersten Zügen nicht nur Milch, sondern vor allem Blut schluckte. Ihre Brüste waren schmerzhaft gerötet und geschwollen. Schließlich bekam sie bis zu 40 Grad Fieber mit Schüttelfrost. Und nichts half, weder die Stillhütchen aus Plastik, noch der Salbeitee oder die Antibiotikatherapie. Die Hebamme war ratlos, und die Frauenärztin verordnete ein Abstillmedikament. Das Stillen war für beide zum Albtraum geworden und hätte Paulchen fast das Leben gekostet: Nach vier Wochen Still-Tortur musste der Kleine wegen Unterernährung in die Klinik.

Seine Mutter aber hat jetzt das Gefühl, versagt zu haben, sie fühlt sich schuldig, weil sie nicht in der Lage ist, ihrem Kind das zu geben, was es braucht. Damit ist sie nicht allein, wie Frank Furedi, Soziologe an der britischen Kent-Universität, kürzlich in einer Studie mit 500 Erstgebärenden gezeigt hat. Jede dritte Frau gab an, sich als schlechte Mutter und Versagerin zu fühlen, wenn sie das Stillen nicht hinbekam. Einige litten deswegen sogar unter Depressionen.

Schon frühere Studien haben aufgedeckt, was Nicht-Stillende umtreibt: Angst, Frustration, Schuld. Denn während das Stillen noch bis in die siebziger Jahre hinein als altmodisch galt, als unnötige Belastung für die Mutter, und Muttermilch als schadstoffbelastet, hat sich der Zeitgeist inzwischen radikal gewandelt. Heute lautet das Dogma: »Breast is best« – Muttermilch als Supercocktail gegen Übergewicht, Diabetes, Allergien des Kindes und Brustkrebs der Mutter. Und damit nicht genug; auch das Seelenheil des Kindes liegt angeblich in der Muttermilch. Der Säugling, so weiß man aufgrund wissenschaftlicher Forschung, lernt beim Stillen auch, was Nestwärme bedeutet. Die enge Bindung zur Mutter ist ein Grundpfeiler für spätere psychische Stabilität. Angeblich soll das Stillen sogar die Intelligenz fördern. Das ist wissenschaftlich zwar noch gar nicht bewiesen – Studien lieferten widersprüchliche Ergebnisse –, trotzdem wird es gern geglaubt.

Allenthalben wurden bereits in den achtziger Jahren Stillgruppen gegründet, 1993 rief die WHO gar die Initiative der stillfreundlichen Krankenhäuser (BFHI) ins Leben. Und Milchpulverhersteller durften von nun an keine Gratisproben mehr in den Krankenhäusern verteilen. »So haben wir es geschafft, das Stillen in Deutschland endlich wieder zu kultivieren«, jubelt Renate Bergmann, Berliner Geburtsmedizinerin und Mitglied der Nationalen Stillkommission (NSK).

Erstaunlicherweise aber hat die ganze Propaganda nicht zu einem Still-Boom geführt. Die Rate liegt hierzulande zwar kurz nach der Geburt noch bei 90 Prozent. Nach vier Monaten aber haben zwei Drittel der Mütter ganz oder teilweise abgestillt. Nur magere zehn Prozent stillen sechs Monate ausschließlich. Denn sehr vielen jungen Müttern ergeht es nicht anders als Ulla. Wunde Brustwarzen, Pilzbefall mit stechenden Schmerzen, Milchstau, Brustentzündung und Abszessbildung sind zum Großteil für die niedrige Stillrate verantwortlich, haben die Autoren der 1998/99 durchgeführten Studie »Stillen und Säuglingsernährung« (SuSe) herausgefunden. Andere Gründe für das baldige Abstillen sind: Alleinerziehung und Rückkehr in den Job.

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Doch aus welchen Gründen auch immer Frauen zur Kunstmilch greifen, bevor die von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfohlenen sechs Monate abgelaufen sind – sie setzen sich einem massiven gesellschaftlichen Druck aus. Freundinnen, Verwandte, Hebammen, Kinderkrankenschwestern, aber besonders andere stillende Mütter machen laut Furedi Druck auf die »Rabenmütter«, die ihrem Kind das Beste vorenthalten.

Die moderne Mutter hat keine Wahl – Stillen ist ein Muss

Mögliche Gründe werden nicht erörtert, sie werden gar nicht erst angehört. Wie in der meditativ anmutenden Atmosphäre einer Münchner Hebammenpraxis, wo sich eine im achten Monat Schwangere ereifert: »Gibt es denn überhaupt Mütter, die nicht stillen wollen?« Und die geburtsvorbereitende Hebamme antwortet: »Ja, aber das muss man akzeptieren.« Ein unausgesprochenes »leider« kann man an ihrer Miene ablesen. Oder wie bei der Besprechung in einem stillfreundlichen Krankenhaus in Hamburg, wo der Oberarzt sein Personal geradezu ermahnen muss: »Umsorgt die Nicht-Stillenden genauso wie die stillenden Mütter.«

Brust oder Flasche – das ist nicht länger eine Wahlmöglichkeit; Stillen ist heutzutage vielmehr ein Muss. »Es geht nicht mehr darum, Frauen über beide Möglichkeiten zu informieren, sondern sie vom Stillen zu überzeugen«, sagt Stephanie Knaak, Soziologin an der Universität von Alberta in Kanada. In dreißig Jahren habe sich der Kontext, in dem die Frau die Entscheidung für Muttermilch oder Flasche fällen muss, immer stärker moralisch aufgeladen. Die Ergebnisse der Kent-Studie von Furedi verwundern sie nicht; klar fühlten sich Mütter mies, wenn sie ihr Kind mit künstlicher Milch füttern müssten, wo doch die Muttermilch angeblich das Nonplusultra an Gesundheitsvorsorge darstelle.

Mit jeder neuen Pro-Stillen-Studie bekommt das Dogma ein stärkeres Fundament. Studien dagegen, die Zweifel am gesundheitlichen Wert der Muttermilch aufkommen lassen, werden als Propagandamaterial der Babynahrungsindustrie abgetan.

Und obendrein werde, laut Knaak, das Risiko von Ersatznahrung verzerrt dargestellt. Auf der Internetseite der Arbeitsgemeinschaft freier Stillgruppen informieren Faltblätter beispielsweise über die gesundheitlichen Gefahren künstlicher Säuglingsernährung. Dazu soll auch mindere Intelligenz gehören. Stephanie Knaak hält das für völlig überzogen. »Muttermilch ist zwar gesünder als industrielle, aber schließlich beeinflussen auch Passivrauchen und Virusinfektionen die Gesundheit eines Kindes.«

Was gut und was schlecht ist, sagt nicht die Kirche, sondern die Medizin

Die Debatte ums Stillen wird inzwischen ähnlich dogmatisch geführt wie die um Nikotinkonsum oder Übergewicht: Wer sich den Gesundheitsaposteln nicht beugt, wird für moralisch minderwertig, etwa für willensschwach, erklärt. Furedi sucht den Grund dafür in der kollektiven Psyche dieser Gesellschaft: »Uns sind die festen ethischen Kriterien anderer Gesellschaften abhanden gekommen. Menschliches Verhalten wird pathologisiert, weil Gesundheit zu einer Methode geworden ist, um neue Vorstellungen von Gut und Schlecht zu entwickeln.« Was einst der Kirche vorbehalten war – die Einteilung der Menschen in gute und schlechte –, besorgt heute die Medizin. Damit kehrt auch das Klassendenken zurück. Denn niedrige Stillraten finden sich vor allem in Familien mit niedrigem Ausbildungs- oder Einkommensstatus, genauso wie die Neigung zu Übergewicht und Rauchen.

Wie aber kann man diese Entwicklung stoppen? Lässt sich die Debatte über das Stillen überhaupt entdogmatisieren? Stephanie Knaak plädiert dafür, sich dabei nicht ausschließlich auf die gesundheitlichen Vorteile zu versteifen. In der Beratung solle man der werdenden Mutter auch nicht verschweigen, welchen Kraft- und Zeitaufwand das Stillen bedeutet. Doch ob dies und die aufmunternden Worte, eine Frau müsse zu ihrer Entscheidung stehen, das Dogma ins Wanken bringen kann, ist mehr als fraglich.

Immerhin hat die Geschichte von Ulla und Paulchen doch noch ein gutes Ende genommen – dank Ullas Eigeninitiative. Sie hat schließlich eine speziell ausgebildete Stillberaterin um Hilfe gebeten. Die Expertin rückte mit einer elektrischen Milchpumpe an, dazu mit einer Babywaage, B-Vitaminpillen und viel Zuspruch. Die Stillhütchen wurden verbannt, und anstatt Salbeitee kam von nun an Stilltee in die Tasse. All das steigerte die Milchmenge, denn die Milchdrüsen hatten wegen der vielen Entzündungen die Produktion auf ein Minimum heruntergefahren. Paul musste nicht im Krankenhaus bleiben und konnte an der Brust trinken, wann immer er wollte; die Stillberaterin assistierte dabei, bis es von allein klappte.

Ulla gehört also nicht mehr zu den Rabenmüttern – oder doch? Oft fürchtet sie, ihr Sohn habe von der unfreiwilligen Hungerperiode und den Schmerzen seiner Mutter, die er mit der Milch aufgesaugt hat, ein Trauma davongetragen. Die Schuldgefühle bleiben ihr also auch jetzt erhalten.

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